Brennpunkt 4
Grundprobleme im staatlichen Schulwesen
sondern Feuer, die entfacht werden wollen"
4.1 Schulpflicht

So ein Mitteilungsvordruck aus einer Grundschule innerhalb der weltoffenen Wissenschaftsstadt Darmstadt. Sie sehen hier den Originaltext (ursprünglich auf einem DINA5-Blatt) des Mitteilungszettels aus dem Jahre 2016. Dieser Vordruck ist dem ehernen Grundsatz „Ruhe und Ordnung“ zu dienen bestimmt. „Massiv“ beweist den Willen, die vorgegebene Richtung unbedingt einzuhalten. Wohl nicht geläufig ist dabei die Empfehlung der weitbekannten Psychoanalytikerin und Humanwissenschaftlerin Ruth C. Cohn „Störungen haben Vorrang“.
Gespräche mit den betroffenen Eltern unterbleiben. Dispute zwischen LehrerInnen und Eltern könnten sich negativ auf die Zeugnisse auswirken. Welches Gymnasium nimmt schon einen Schüler mit der Note 3 im Sozialverhalten.
Fazit der Staatsschulordnung: Pathogenese
Alleine schon diese wenigen Einblicke in das staatliche Schulwesen lassen unschwer die Diskrepanz erkennen, die zwischen schulischem Angebot und der realen Welt herrscht.
So benötigen beispielsweise wirtschaftliche Unternehmen MitarbeiterInnen mit Einfallsreichtum, sozialen Fähigkeiten, Beweglichkeit, Vielseitigkeit, Verantwortung und kein Schubladenwissen.
Demokratisches Miteinander lebt mit Bürgern, die es verstehen, inner-halb Komplexer Probleme miteinander auszukommen und lösungsorientiert zu denken und zu handeln. Fundamente dafür sind ganzheitliches Denken, Empathie, Ausdauer mit einer erheblichen Portion Gelassenheit in der Tasche und keine Einsernoten.
Fachleute im öffentlichen Dienst benötigen heute die Fähigkeit, auch mit ihren nicht bekannten Bürgern konstruktiv handeln zu können und zusammen mit fachfremden Kollegen Gesamtlösungen zu finden.
Dienst nach Vorschrift ist Schnee von gestern.
Werdende Lehrer*Innen brauchen dringend das nötige Rüstzeug zum produktiven Zusammenwirken mit den ihnen anvertrauten Kindern und Jugendlichen. Stillsitzen und Gehorsam war mal. „Störungen“ sind heutzutage etwas Alltägliches, sind Gefahren aber auch Chancen zu Neuem. Durchsicht statt Aufsicht ist angesagt. Initiatives, situations-bedingtes und einfallsreiches Handeln braucht Freiräume, jedoch we-der Lehrpläne noch Vorschriften.
Trotz aller Käfighaltung in den Staatsschulen gelingt es vielen Schüler*Innen, später erfolgreich und selbstbewusst im Leben zu stehen. Es gelingt ihnen aufgrund von Erlebnissen außerhalb der Schule und von Begegnungen mit LehrerInnen innerhalb der Schule, die Mut haben, trotz Vorschriften und Dienstaufsicht ihren SchülerInnen von Mensch zu Mensch zu begegnen.
Wie ganz anders sieht die Welt hingegen aus, wenn den Schüler*Innen erlaubt wird, sich wie früher selbst zu entwickeln und sich nach ihrer Fasson gemäß zu entfalten. Aus Erziehung wird dann Beziehung. Kindergruppen, zumal in solchen mit unterschiedlich alten Jungen und Mädchen zelebrieren in ihrem Lernhaus wahre Hochzeiten. Bekanntestes Beispiel – für uns – ist immer noch die Schülerschule von Barbiana (1955 bis 1967), von einem sozialorientieren Priester in den kummervollen Bergen südöstlich von Florenz ins Leben gerufen. Don Lorenzo Milani hatte zur Linderung der Not für die Kinder aus den umliegenden Berg-Bauernhöfen das Pfarrhaus zur Schule werden lassen. Fast alle Kinder waren zugleich Schüler und Lehrer. Milani war Autorität, Vater, Lehrer und Freund. Alle opferten sich auf und gaben ihr Bestes für i h r e Schule. Mit Feuereifer und Tatkraft haben alle lernbegierig zusammengewirkt: ohne Plan, ohne Weisung, ohne Benotung. Durch frühen Tod des Priesters und des akuten Geldmangels hauchte diese Schule ihr Leben aus. Der Staat erwachte erst, als die Schüler ihren Brief an eine Lehrerin verfass-ten. Immerhin hat er daraufhin eine Reform in seinem Schulbetrieb bewirkt.
Warum bloß öffnen die Parteienländer die Pforten ihrer Schulen nicht für diese zukunftstragenden Gaben? Ist den Parteienländern nicht bewusst, wie durch extrinsisch bestimmtes Lernen die Ressourcen vieler Schüler*innen brachliegen und wie durch Bewertung und Benotung ihrer fremdbestimmten Leistungen das Selbstwertgefühl vieler Schüler*innen leidet? Ist den Parteienländern zudem nicht bewusst, wieviel Unmut ihr antiquiertes Schulehalten bei vielen Schüler*innen, Eltern und gerade auch Lehrer*innen erzeugt? Sind die Parteienländer blind dafür, dass selbstbestimmtes intrinsisch motiviertes und individuelles Lernen, verbunden mit Kooperation Handeln von Mensch zu Mensch ein Urprinzip unserer Evolution darstellt und deshalb das Lernen nie und nimmer vorherbestimmt werden darf? So sinnvoll bürokratisches Ordnungsprinzip in vielen Bereichen wirkt, so sinnwidrig ist es, mit diesem Prinzip menschliches Lernen ordnen zu wollen. Aus Mauersteinen kann niemand Windmühlenflügel zaubern. Aus der Natur der Sache heraus kann folglich der Rechtsbegriff "Aufsicht" nur als Rechtsaufsicht und eben nicht darüber hinaus als Fach- und Dienstaufsicht interpretiert werden.
Diese Mentalität der Parteienländer erinnert uns an diejenige der Schildbürger, als sie ihr Rathaus gebaut haben. Die Festrede zur Einweihung des fertiggestellten Bauwerks endete mit: "… Möge zu allen Zeiten das Licht der Weisheit leuchten - so strahlend hell wie am heutigen Tag." Die böse Überraschung folgt auf dem Fuße. Im Innern des Bauwerks ist es stockfinster. Zur Abhilfe fangen die Schildbürger mit vielen Eimern und Kannen Licht im Freien ein und tragen die gefüllten Behältnisse hinein ins stockdunkle Rathausinnere. Erfolglos. Erst viel später erzählt ihnen ein Besucher des Städtchens, dass sie vergessen haben, Fenster einzubauen.
Auch hier interessiert uns, liebe Leserin und lieber Leser, wie Sie über das alles denken - in welcher Richtung auch immer.
Zu guter Letzt ein Ausschnitt aus "Die 10 größten Lernlustkiller" von der Diplom-Pädagogin und langjährigen Dozentin im Bereich Pädagogik, Heilpädagogik und Psychologie. Ein Ausschnitt, in welchem die Autorin menschenferne Praxis der Staatsaufsicht brennpunktartig beleuchtet.
4.6 Selbstwertbedrohung
Es gibt nichts grauenvolleres wie
die Fremdheit derer, die sich kennen."
Gerhard Hauptmann
Schule als Selbstwertbedrohung
„Die Kinder sind Teilnehmer des Ferien-Lern(t)räume-Seminars, da-runter viele G8 Schüler. Und die Eltern sind Teilnehmer des dazugehörigen Elternkurses. Beiden ist gemeinsam, dass der Druck der Schule sie überfordert und sie nach jedem nur erdenklichen Strohhalm greifen. Die Schule beginnt, ihre Beziehungen zu zerfressen und ihrer aller Selbstvertrauen zu zerstören.
Da sitzen sie vor uns im Kreis auf ihren Stühlen, 18 Jungs und Mädchen im Alter zwischen 10 und 15 Jahren. Die Kinder halten Briefe in der Hand. Es sind bunte Briefumschläge: rot, gelb, blau, lila, grün. Nicht etwa Umschläge mit schwarzem Trauerrand. Und dennoch: Als die Kinder sie öffnen und zu lesen beginnen, fließen die ersten Tränen, zuerst bei den Jungs, dann bei den Mädchen. Einige der coolen Jungs reiben sich verschämt die Augen. Zwei Mädchen schieben die langen Haare als Vorhang vor ihr Gesicht. Geschützt. Die Tränen fließen in Strömen. Kein Auge bleibt trocken. Es ist, wie es jedes Mal ist.
Die Eltern haben ganze Arbeit geleistet, haben alles gegeben. Viele von ihnen sind mit dem, was sie ihren Kindern geschrieben haben, selbst über ihre Grenzen gegangen. Und auch den Mamas und Papas sind vor ein paar Tagen beim Verfassen der Briefe die Augen übergelaufen. Auch da durfte ich schon Taschentücher reichen, und so manche Mutter, so mancher Vater hat sie dankbar angenommen.
Was genau die Eltern ihren Kindern geschrieben haben, wissen wir nicht. Aber es muss etwas ganz anderes gewesen sein als das, was die Kinder sonst immer von ihnen hören, wie „Hast Du dein Zimmer endlich aufgeräumt? Und warum liegen die Fußballschuhe schon wieder im Flur?“. „Hast du noch immer nicht Klavier geübt? Wir zahlen doch nicht umsonst jeden Monat die Musikschule!“ – „Warum schon wieder eine Fünf in Englisch? Tu endlich was! Du könntest, wenn Du nur wolltest! Streng dich mal an! Sei nicht so faul!“.
Nein, diese Briefe haben eine andere Qualität. Die Eltern haben niedergeschrieben, was sie an ihren Kindern lieben. Nichts weiter. Keine Kritik. Keine Ermahnung. Keine Moral. Sie bringen zum Ausdruck, dass sie stolz auf ihre Kinder sind. Sie bieten ihnen an, den „Reset“-Knopf zu drücken und einen gemeinsamen Neuanfang zu wagen. Sie selbst haben innerlich den Weg vom Kritiker zum Schatzsucher beschritten: Sie sind bereit, in ihren Kindern die verborgenen, missachteten Schätze zu suchen und ihnen ans Licht zu verhelfen. Sie wollen Unterstützer und Begleiter werden. Sie wollen anfeuern, statt niedermachen, den Kindern mehr Eigenverantwortung geben und sie weniger gängeln. Sie sind entschlossen, den Kindern ihre Träume zu lassen – egal, ob das Kind Ärztin, Lehrer, Rechtsanwältin, Fußballspieler, Musikerin, Schauspieler oder Model werden will.
Nun sitzen die Eltern mit im Boot, sind von Betroffenen zu Begleitern geworden. Die Kinder haben ihre Rückendeckung. Der Wind der Befreiung weht durch den Seminarraum.
Mehrere Kinder ziehen sich jetzt in eine Ecke des Raumes zurück. Einer schlendert zum Fenster und schaut in die Dunkelheit, ein anderer sucht sich einen Platz zum Alleinsein unter dem Tisch. Das Schluchzen wird lauter. Wir gehen zu den Kindern, nehmen sie in den Arm und erklären ihnen, warum sie jetzt so weinen müssen. Es sind heilige Momente, auch für uns zutiefst bewegend. Jedes Mal wieder.
Das Eis ist gebrochen. Das Eis zwischen Kindern und Eltern. Mit Tränen fließt auch die Liebe wieder. „So was Schönes habe ich ja noch nie bekommen.“, schluchzt mir Sandra mit verweinten Augen entgegen, ihr Kinn bebt dabei. „Können die einem das nicht mal früher sagen?“, bricht es aus Maximilian heraus. Florian ist vollkommen von der Rolle: „Ich hab gar nicht gewusst, dass mein Papa stolz auf mich ist!“. Ein anderer murmelt nur monoton vor sich hin: „Mann! Mann! Mann!“.
Eigentlich suchen die Eltern mit ihren Kindern bei uns Lerntechniken und Lernstrategien. Die haben sie auch bekommen. Aber was viel mehr zählt, ist die Arbeit an der Basis, am Selbstwert der Kinder, der im Laufe ihrer Schulbiografie nur noch einem Windhauch gleicht. Ihnen zu vermitteln, wie wertvoll und liebenswert sie sind, in genau dem Zustand, in dem sie zu uns kommen – das ist unser heimlicher Lehrplan. Der Schmerz der Kinder ist ein heilsamer Schmerz: Liebe tut manchmal auch weh. Wir helfen den Kindern, ihre ambivalenten Gefühle zu verstehen: Weil sie sich solange nach Anerkennung ihrer Eltern gesehnt haben, danach, dass die Eltern stolz auf sie sind, so, wie sie wirklich sind – deshalb tun diese Liebeserklärungen nun auch weh. „Es ist ein schöner Schmerz!“ fasst die 13-jährige Sarah das Wechselbad der Gefühle zusammen.
Viele Kinder haben nun das Bedürfnis, ihre Eltern anzurufen, ihnen ihr dankbares Herz auszuschütten. „Meine Mama hat am Telefon auch geweint.“, erzählt ein 14-jähriger. „Mein Papa auch!“, tönt es fast gleichzeitig von zwei anderen Kindern, als sich die Gruppe eine Stunde später in einem der Schlafräume zum Austausch trifft. Sie wollen reden. Sie wollen spüren, dass es anderen auch so geht. Welch eine bedeutsame Stunde! Die Hoffnung steht ihnen heute Abend ins Gesicht geschrieben.
Diese Szenen spielen sich immer gleich ab. Und jedes Mal bin ich wieder zutiefst berührt. Etwa 20% der teilnehmenden Kinder haben einen IQ über 130 und zugleich schlechte Noten und großen Frust in der Schule. Einige von ihnen werden das Klassenziel nicht erreichen. An diesen Abenden hätte ich gerne die Kultusminister aller Länder dabei, Schulleiter und Lehrer als unsichtbare Geister. Wer an einem solchen Abend in den Abgrund dieser Kindernöte geblickt, den Schmerz und die Verzweiflung erlebt hat, die durch die Schule ausgelöst werden, ist hinterher nicht mehr derselbe. Wer auf der einen Seite das grandiose Potenzial dieser Kinder erlebt und auf der anderen Seite im Zeugnis die Noten sieht, die sie zu Versa-gern stempeln, der zweifelt grundsätzlich an unserer Schulwelt.
Die Kränkung des Selbstwerts hat System
Wir Lehrer sind Teil dieses rigiden Systems, sozialisiert im Perfektions- und Notenwahn. Wir kennen es nicht anders, es ist für uns Normalität. Und so führen wir fort, was uns selbst geprägt hat. Tag für Tag. Woche für Woche. Jahr für Jahr. Lehrergeneration für Lehrergeneration sind wir Opfer und Täter zugleich. Zum Beispiel wenn wir eine Klassenarbeit herausgeben und ein Schüler zu weinen beginnt, weil er wieder mal eine Vier oder Fünf eingefangen hat. Doch die wenigsten brechen in Tränen aus, sie fallen zahlenmäßig kaum ins Gewicht. Viel schlimmer als die Tränen dieser Einzelnen sind die unsichtbaren Tränen der vielen anderen, die wir gar nicht zu sehen bekommen, weil uns die Schüler ihre Verletzungen nicht mehr zeigen wollen. Sie leiden heimlich und still. Aber sie leiden. Mehr als wir Lehrer uns das vorstellen können. Schüler bekommen die Botschaft: „Du bist nicht perfekt, solltest es aber möglichst sein!“ ununterbrochen serviert – wenn nicht verbal, dann nonverbal über die Noten. Bereits bei einer Drei denkt jeder Schüler: „Ich bin nur Mittelmaß!“.
Ein Kind ist mehr wert als eine Zahl
Genau das sind die Erlebniskatastrophen, die wir unseren Kindern täglich zumuten. Und je jünger die Kinder sind, desto mehr identifizieren sie sich mit ihren Schulnoten. Sie haben nicht nur diese Noten, sondern sie sind diese Noten. Jede schlechte Note trifft sie bis ins Mark. Merken wir überhaupt noch, wie weit wir inzwischen weg sind von ihrer inneren Realität und was wir ihnen antun? Mit den Noten etikettieren wir sie. Aber Kinder sind keine Marmeladengläser! Um ihr Potenzial zu entfalten, brauchen sie keine Etiketten. Und längst wissen wir auch: Der Mensch wächst nur an seinen Stärken. Das lehrt uns die Hirnforschung seit Jahren – doch wir tun das Gegen-teil! Mit der Notengebung untergraben wir den Selbstwert vieler Kinder und zerstören die wichtigste Grundlage für ihr Lernen: den Glauben an sich selbst. Sind wir eigentlich noch bei Trost? Eigentlich sollten wir Lehrer neben jede Note, die wir auf eine Klassenarbeit schreiben, den Satz notieren: „Du bist mehr wert als diese Zahl!“. O-der, wie Kurt Singer vorschlägt, ähnlich wie auf Zigarettenpackungen den Hinweis anbringen: „Die Kultusminister warnen: Noten gefährden die Entwicklung des Kindes.“
Warum Schüler trotz allem oft mit einer Drei „zufrieden“ sind, eine Vier kommentarlos hinnehmen und sich bei einer Fünf nicht gleich vom Hochhaus stürzen? Weil sie bereits zermürbt sind. Weil sie sich mit dem unabänderlichen Schulschicksal abgefunden haben. Weil sie sich teilweise oder ganz aufgegeben haben. Ein Partner, der bei einer „Du bist nur Mittelmaß für mich!“ –Botschaft nicht hellwach aufspringt und Fragen stellt, hat bereits resigniert! Wie die Schüler. Und die Lehrer. Und die Eltern. „Ist ebenso! Es kann ja nicht jeder ein Einser-Schüler sein!“. So ist doch unsere Denke, oder? Doch die Resignation hat einen hohen Preis – für den Einzelnen und für die ganze Gesellschaft. Tag für Tag vergeuden wir die Potenziale unserer Kinder, und es fällt uns nicht einmal auf. Es ist ein großer Lernlustkiller, wenn wir immer nur auf das schauen, was nicht klappt. Auf die Defizite. Auf die Fehler. Denn der Mensch wächst in erster Linie an seinen Stärken.
Mit Vergleichen nach unten
Unser Notensystem ist auf Selektion ausgerichtet und produziert daher zwangsläufig Mittelmaß und Verlierer. Doch wenn die Referenzgröße für meine Leistung – und damit meinen Wert – die anderen sind und nicht ich selbst, muss das mein Selbstwertempfinden untergraben. Wenn der Vergleich mit anderen den Wert konstituiert, ist das fatal, denn es gibt immer einen, der schneller rechnet, spannender erzählt, brillanter schreibt oder schöner malt. Und später wird es immer einen geben, der mehr Geld hat, eine höhere Position oder einen attraktiveren Partner. Wer seine Selbstachtung auf den Vergleich mit anderen gründet, hat schon verloren. Produktiv ist der Blick auf andere dann, wenn wir uns davon anregen und ermutigen lassen – als Quelle der Inspiration und Chance auf Weiterentwicklung. Menschen, die einen Weg bereits gegangen sind, der noch vor uns liegt, können uns Wegweiser und Ansporn sein. Zu sehen, was andere getan und geschafft haben, kann sehr motivierend sein – voraus-gesetzt, wir können unsere Vorbilder selbst wählen. Deshalb sollte ein gesundes Schulsystem den Vergleich der Schüler mit sich selbst fördern, der ihnen die eigenen Fortschritte und Möglichkeiten bewusst macht, statt den Einzelnen an den anderen zu messen.
Wir Eltern machen es allerdings ähnlich. Auch wir vergleichen gerne: „Und welche Note hat eigentlich der Sebastian?“. Oder: „Die Mama von David hat mir erzählt, dass der sich immer gleich nach dem Mittagessen an die Hausaufgaben setzt.“ Absurderweise bilden wir uns ein, dass solche Vergleiche zu mehr Motivation und zu besseren Ergebnissen frühen könnten. Denken Sie nur einmal, Ihre Partnerin würde Ihnen sagen: „Meine Kollegin hat mir erzählt, dass ihr Mann ihr regelmäßig Blumen schenkt, einfach so.“ Motiviert Sie das als Mann? Bekommen Sie davon Lust, Blumen mitzubringen? – Oder er zu ihr: „Die Gabi schaut klasse aus. Die hat vielleicht einen Body! Frag sie doch mal, wie sie das macht!“. Oh ja, wir Frauen würden natürlich sofort zum Telefonhörer greifen, die Gabi anrufen und dann an unserem Body arbeiten, nicht? Im Grunde unseres Herzens wissen wir, dass wir mit dieser Arbeit von Vergleichen und indirekten Aufforderungen genau das Gegenteil dessen bewirken, was wir wünschen – bei Erwachsenen genauso wie bei Kindern.
Warum tun wir es dann? Weil wir uns so ohnmächtig fühlen, so boden-los ohnmächtig, wenn die Kinder mal wieder das Lernen verweigern. Dann rutschen uns solche dummen Vergleiche heraus. Doch wir gewinnen viel mehr, wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf das Positive richten, auf die Einzigartigkeit unseres Kindes (und unseres Partners).
Positive Fehlerkultur
Unsere Schulen sind weniger Lern- und Lebensschulen als viel-mehr Prüf- und Fehlersuchanstalten. Und hier liegt auch der Hund begraben. Die unausgesprochene Devise lautet nämlich: In der Schule muss du möglichst perfekt sein! So sitzt von der ersten Stunde bis zum Schlussläuten neben jedem Schüler ein unsichtbarer Mr. Perfect und kritisiert ohne Unterlass: „Nicht gut genug!“, „Nicht vollständig genug!“, „Falsch!“, „Fehler!“, „Punktabzug!“, „Du könntest es besser, wenn du nur wolltest!“, „Du hast´s wieder nicht kapiert!“ – die ganze Palette an inneren Vorwürfen, die wir alle kennen.
Genauso sitzt und steht Mr. Perfect übrigens auch neben jedem Lehrer: Er knebelt und dirigiert ihn, wenn er seinen Unterricht vorbereitet, wenn er vor der Klasse steht, wenn er die Schüler zur Mitarbeit aufruft, wenn er abfragt, wenn er korrigiert und wenn er Noten vergibt. Bekommen Schüler in dieser selektionsstickigen, notenvernebelten Atmosphäre überhaupt noch genügend Luft, um zu forschen und zu experimentieren? Wie entwickeln sie unter diesen Bedingungen Zu-trauen zu ihren Fähigkeiten? Wie kann jemand zum Pionier und Querdenker werden – jetzt und später im Berufsleben – wenn er oder sie immer auf Anhieb das richtige Ergebnis liefern soll?
Niemals wären wichtige Erfindungen wie zum Beispiel die Glühbirne gemacht worden, wenn die Ingenieure nicht aus Fehlern hätten lernen dürfen. Von Edison wird berichtet, dass er weit über tausend gescheiterte Versuche auf seinem Lern- und Erfahrungskonto verzeichnet hatte, bis das Ding endlich mal leuchtete. Tausend Fehler! Tausendmal gescheitert! Tausendmal umsonst! Und dann dieses bahnbrechende Ergebnis.
Was können wir tun, damit unsere Kinder diese fundamental wichtige Selbstwirksamkeitsüberschätzung entwickeln? Als Eltern? Als Lehrer? Notwendig wäre die radikale Neuinterpretation dessen, was als Fehler gilt, eine völlig neue Fehlerkultur und eine ganz neue Sicht auf unsere Leistungsmessung anhand der herkömmlichen Zensuren.
Das führt uns zu einigen grundsätzlichen Fragen: Wie kann man unter dem Diktat der Perfektion Begeisterung entwickeln für das, was man lernen will? Ist es möglich, unter diesen Bedingungen Hochleistungen zu erbringen?
Welcome, Mrs. Flow!
Als erstes gilt es, den Perfektionismus aus den Klassenzimmern zu verbannen. Neben jeden dieser grauenhaft korrekten und Defizit fokussierten Mr. Perfects muss sich eine wohlwollende, ermutigende Mrs. Flow setzen. Mrs. Flow denkt anders, fühlt anders, handelt anders als Mr. Perfect. Nämlich nicht vom Fehler her. Nein! Sie sieht die Schätze, die Stärken und Talente. Sie würdigt das halb volle Glas, sie sieht die Luft nach oben und erkennt, was möglich ist. Mrs. Flow winkt nicht mit dem Notizbuch, sondern begrüßt morgens ihre Schüler als kompetente Persönlichkeiten und lädt sie ein: Probiert euch aus, geht an eure Grenzen und lasst uns gemeinsam herausfinden, was in euch steckt und wozu ihr in der Lage seid. Und sie weiß: Fehler gehören zum Lernen wie der Löffel zur Suppe. Daher schreibt sie jeden Morgen mit großen Lettern an die Tafel: Fehler sind herzlich willkommen!
Werfen wir einen kurzen Blick ins Matheheft eines x-beliebigen Schülers: „Da ist Hopfen und Malz verloren!“, denkt Mr. Perfect mit dem Blick auf das Fehlende. „Da ist noch eine Menge Luft nach oben!“, sieht Mrs. Flow mit dem Blick auf das noch Mögliche. Mrs. Flow ahnt die Goldgrube im Kind. Sie ist zutiefst menschlich und gelassen, denn sie weiß: Fehler sind unverzichtbarer Teil des Lernprozesses.
Wenn Fehler positiv aufgenommen werden, dann demotivieren sie nicht, sondern fördern die Lust, weiter zu lernen, wieder Fehler zu machen, sich zu verbessern und folglich auf ein höheres Niveau zu gelangen, um dann den Kreislauf wieder von vorne zu beginnen: Lernen, Fehler machen, Verbessern, höheres Niveau. Auf diese Weise löst Mrs. Flow die Handbremse der Lernlust und des Lernerfolgs, die Mr. Perfect permanent zieht. Lassen Sie uns Mrs. Fow im Kollegium willkommen heißen und Mr. Perfect erst einmal in seinen wohlverdienten Ruhestand schicken. ER hat lange genug seinen Dienst getan.
Der Physiker und Pädagoge Martin Wagenschein plädiert dafür, statt Fehler zu ahnden, lieber nachzufragen, wie die falsche Antwort zustande kam: Was hast du dir dabei überlegt? Wie bist du vorgegangen? Diese Fragen helfen dem Lernenden, über seine Arbeit zu sprechen, alte Gedanken noch einmal aufzufrischen und im besten Fall selbst zu merken, wo er einen Fehler machte. Der Fehler wird damit zu Lernchance. Rückfragen statt Rotstift ist die Devise!
Pubertät
In der Pubertät machen sich die Kinder auf der Suche nach ihrer Identität, nach ihrer Einzigartigkeit, nach dem, wer sie wirklich sind. Daher grenzen sie sich auch so sehr von uns ab. Sie wollen kein Abklatsch ihrer Eltern sein, sondern ihr Eigenes finden und ihr Ding machen. Das ist für sie eine aufregende Zeit mit vielen Hochs und Tiefs. Da sollte eines unserer wichtigsten Ziele als Eltern sein, unseren Kindern alles zu geben, damit sie sich selbst lieben können. Wer sich selbst mag, den kann so leicht nichts umhauen. Aber genau daran knabbern die Jugendlichen. (s.u. Nr. 2.5 Resilienz). Selbstzweifel quälen sie jeden Tag. Bin ich gut genug? Bin ich schön genug? Bin ich sexy genug? Bin ich intelligent genug? Kurz: Bin ich wirklich liebenswert? Viele von uns quält diese Frage noch im Erwachsenenalter.
Kinder kennen ihre Stärken nicht
Selbstwert ist die Grundlage allen Erfolgs. Um die Kinder zu unter-stützen, ein gesundes Selbstwertgefühl zu entwickeln und sich selbst mehr zu lieben, habe ich in einem Seminar folgende Übung gemacht:
Die Kinder saßen verteilt im Raum auf gemütlichen Kissen: jedes Kind bekam ein großes Blatt mit einem Herz darauf und sollte nun bei leiser Musik dieses Herz füllen: Was magst du an dir? Was ist besonders an dir? Welche Stärken hast du? Was kannst du gut? Ich freute mich auf diese Übung die den Kindern ihre Ressourcen aufzeigen sollte, und hatte nicht mit dem gerechnet, was dann passierte: Die meisten Kinder saßen ziemlich ratlos über ihren Blättern und hatten gerade mal zwei Punkte in ihre Herzen geschrieben. Sie wussten einfach nicht, was sie an sich selbst mögen sollten! Verblüfft gab ich ihnen Hilfestellung und weitete die Frage aus: „Wenn dir nichts einfällt, dann überlege einfach, was deine Eltern oder deine Lehrer Gutes über dich sagen. Was mögen sie an dir?“. Zuerst herrschte nur Stille, fast eine Starre, dann kam Bewegung in den Raum. Ein Schüler zerknüllte voller Wut sein Blatt, warf es auf den Boden, rannte aus dem Raum und knallte die Tür hinter sich zu. Peng! Mehreren anderen Kindern standen die Tränen in den Augen: Ja, was sagen meine Eltern und Lehrer eigentlich Positives über mich? Schmerz erfasste sie, und wir hatten allerhand zu tun, die Kinder zu trösten. Doch hätten wir sie aufschreiben lassen, was sie alles nicht können, was sie an sich nicht mögen, dann hätten sie sehr viel mehr zu schreiben gewusst.
Eines der größten Motivationsprobleme ist, dass die Kinder ihre Stärken nicht kennen. Dieses Ergebnis hat mich erschüttert und ich habe diese Übung so nie wiederholt. Aber die Erinnerung daran ist für mich ein Aufruf! Ein Aufruf an uns alle, Kindern viel mehr zu spiegeln, wie wertvoll sie sind, auch wenn sie nur eine Vier nach Hause bringen, keinen Bock haben, Lateinvokabeln zu lernen, wieder mal nicht Klavier geübt haben und ihre dreckigen Socken irgend-wo liegen lassen. Trotz allem sind sie lieb und kostbar – und das müssen wir ihnen auch sagen. Wie oft wir unseren Kindern Negativbotschaften mitgeben, fällt uns schon gar nicht mehr auf. (Jutta Wimmer, aus "Die 10 größten Lernlustkiller - Wie unsere Kinder mehr Spaß an der Schule haben", 2015 Kösel-Verlag, dort die Seiten 96 bis 109).